Ambitionierte Literatur - verprellt sie den Leser und die Leserin?

Literatur und ihre Botschaften – darf sie überhaupt eine haben? Verdirbt jede Absicht, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, die Welt so darzustellen, dass erkennbar wird, wo Menschen Fehler machen, wo sie unmoralisch handeln, wo sie z.B. vom Mainstream geleiteten Irrtümern aufsitzen, nicht von vorneherein das literarische Werk? Erreicht es seine Leser nur dann, wenn es allein ihnen obliegt, das Beschriebene und literarisch Erlebte zu interpretieren, einzuordnen und für sich zu bewerten? Muss ein Schriftsteller dem von ihm Dargestellten nicht vollkommen neutral gegenüberstehen? Sonst besteht die Gefahr: Der Leser oder die Leserin spürt die Absicht und ist verstimmt? Aber wird in den großen zum Beispiel sozialpolitisch ambitionierten Werden wie etwa Germinal von Zola oder Romeo und Julia auf dem Dorfe von Keller – um nur zwei der vielen Beispiele ambitionierter Darstellungen herauszugreifen - nicht doch und eindeutig eine Botschaft über die gesellschaftlichen Verhältnisse vermittelt und auch eine Wertung des Autoren deutlich? Wie mir scheint, ist nicht eine für den Schriftsteller erzwungene Neutralität Voraussetzung dafür, dass ein Leser oder eine Leserin sich nicht gegängelt und zu Einstellungen gedrängt fühlt. Es ist wohl mehr die Frage, wie es gelingt, zum Beispiel die Erfahrungen von Ungerechtigkeit so deutlich erfahrbar und nachvollziehbar zu machen, dass der Leser und die Leserin die Botschaft begreifen, sozusagen selbst für sich erarbeiten und dann aus freien Stücken annehmen kann. Darüber nachzudenken, würde sich lohnen. Und sicher kann man bei den Meistern lernen, wie das geht. Aber was ist, wenn die Botschaft gar nicht so ankommt, wie man es als Autorin gedacht hat, wenn sie nicht oder sogar missverstanden wird? Einen großen Schock in diesem Zusammenhang erfuhr ich bei einer Lesung zu meinem Buch „Zum Wohle“, in dem ich die schwierige Situation in der ambulanten Erziehungshilfe thematisierte habe: Sie hindert die dort Arbeitenden oft genug daran, wirklich gute Arbeit im Sinne ihrer Klientel zu leisten. Stattdessen werden sie scheinbar mitschuldig an den Misserfolgen ihrer Arbeit. Tatsächlich aber haben diese Misserfolge nicht sie, sondern das bestehende System der neoliberalen Erziehungshilfen zu verantworten. Gleichzeitig habe ich in diesem Roman versucht, für die Erziehungshilfemaßnahme „Sozialpädagogische Familienhilfe“, von der ich grundsätzlich eine sehr hohe Meinung habe, eine Lanze zu brechen und deutlich zu machen, was sie leisten könnte, wenn sie unter besseren, nicht auf Effizient und Schnelligkeit getrimmte Arbeitsbedingungen stattfinden würde. Nach einer Lesung kamen zwei Damen auf mich zu. Beide arbeiteten in wichtigen Leitungspositionen irgendwo in der Jugendhilfe. Sie zeigten sich höchst begeistert von meinem Buch. Aber während wir sprachen, wurde mir zu meinem Entsetzen klar, dass sie das Buch als eine vernichtende Kritik an eben dieser Hilfemaßnahme verstanden hatten. Sie seien schon immer dafür gewesen, die Sozialpädagogische Familienhilfe abzuschaffen, weil sie nichts brächte, und weil sie sowieso eine konservative, die klassische Familienkonstellation (leibliche Eltern und zwei Kinder) propagierende und stützende Hilfe sei. Sie hatten weder die zentrale Botschaft erfasst, dass nämlich die Schwächen der gegenwärtigen Jugendhilfe einschließlich der derzeitigen Schwächen der Sozialpädagogischen Familienhilfe im Wesentlichen Folge der neoliberalen Umstrukturierung des Sozialen sind. Noch hatten sie begriffen, welche Potentiale diese beschriebene Hilfemaßnahme hätte, wenn man sie so agieren lassen würde, wie es fachlich angemessen wäre. Das stand ich nun, hatte viele 100 Seiten mit Herzblut und mit allen mir zur Verfügung stehenden Mittel einen ganzen Raman zu diesem Thema geschrieben, um genau diese Haltung infrage zu stellen. Und ich musste erleben, dass diese Leserinnen mein Buch einfach verkehrt herum verstanden hatten und eine Botschaft – ganz in ihrem Sinne – darin sahen, gegen die ich - für meine Begriffe unmissverständlich - gerade angeschrieben hatte. Einmal mehr habe ich mich danach gefragt, ob Literatur wirklich aufklärend wirken kann. Ob die Leserinnen sich nicht doch immer nur das herausklauben, was ihrer Sicht der Welt bereits entspricht, was sie für die Wahrheit halten und von dem sie nicht abrücken werden. Als ich im Fach Sozialpsychologie promovierte, habe ich an einem Thema gesessen, dass ich damals nicht gelöst habe und bis heute nicht lösen kann: Ist es möglich, das ein Leser durch die Rezeption von Literatur seine weltanschaulichen, moralischen oder auch politischen Einstellung ändert, infrage stellt, Neues begreift, seine Vorurteile hinterfragt usw ? Doch, ich weiß von Romanen und Kurzgeschichten, von Novellen und Gedichten, dass sie zumindest für mich einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, dass sie mein Weltbild geprägt, erweitert und möglicherweise auch korrigiert haben. Das gibt es schon. Aber auch den großen Meister wird eine solche Wirkung s sichern nicht immer gelungen sein. Ich sehe schon, wie mich ein Leser meines neuen Romans ansprechen und mir freudestrahlend mitteilen wird, wie er sich gefreut hätte, als diesem Schlappschwanz und Träumer Dieter durch seine Vorgesetzen einmal richtig gezeigt wurde, wie das Leben so läuft und was moderne Soziale Arbeit heißt…. Ich hoffe, dass so etwas nicht allzu oft passieren wird. Aber ausschließen kann ich es nicht. Das Werk gehört ja bekanntlich dem Leser, dem Betrachter, dem Hörer. Was soll man machen. Man kann nur hoffen, dass sich die Werke selbst dagegen verwahren.